Sozialismus oder bürgerliche Mehrheit – die BVZ und die Dolchstoßlegende

Rudolf Isfort [10.2020]PDF-Download

Mit Dolchstoßlegende/-lüge bezeichnen Historiker die Behauptung, der Erste Weltkrieg sei für das Deutsche Reich nicht durch den militärischen Untergang, sondern durch politische Machenschaften der Heimat verloren worden: Die Heimat ist dem Heer in den Rücken gefallen. Hindenburg machte das Wort Dolchstoß (von hinten erdolcht) am 18.11.1919 vor einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum gängigen Topos – die Vorstellung Dolchstoß aber war Gemeingut des Bürgertums.

Die Bottroper Volkszeitung (BVZ) brachte es auf den Punkt: entweder eine sozialistische oder bürgerliche Mehrheit (9.12.18).[1] In Bottrop bestanden die bürgerlichen Parteien 1918/19 nach dieser Entweder – Oder – Einteilung aus dem Zentrum und der Polen-Partei. Die BVZ musste es wissen, denn sie war nach eigenem Selbstverständnis ein Zentrumsblatt, also eine Zeitung des politischen Katholizismus. 1918/19 war Haugg ihr Schriftleiter.[2]

Der A&S-Rat übernimmt die Exekutive.[3]

Nachdem es sich vom Schock der Revolution erholt hatte, die am 9.11.1918 aus Essen nach Bottrop gebracht worden war, versuchte das Bottroper Bürgertum, die örtliche Revolution zu beenden durch Unterwanderung der revolutionären Strukturen und – mit langfristiger Perspektive – durch die Ausrichtung aller Kräfte auf die bevorstehende Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung, als deren Ergebnis die BVZ eine bürgerliche Mehrheit erwartete (9.12.18)

Die Übernahme der neuen revolutionären Institutionen machte der Bottroper A&S-Rat, der sich am 16.11 auf einer Bürgerversammlung für die Revolution geradezu entschuldigt hatte (18.11.18),[4] dem Bürgertum besonders leicht. Am 11.11. wurde die Bevölkerung in einem Aufruf in der Bottroper Volkszeitung darüber informiert, dass der Arbeiter- und Soldatenrat, die organisierte Arbeiterschaft, die

Amtsverwaltung und die Gemeindevertretung einen Vertrauensausschuss gebildet haben, der alle kommenden Schwierigkeiten der nächsten Zeit lösen sollte. Hörte sich das noch nach einer neuen, revolutionären Gemeindeleitung an, zeigte die Gemeinderatssitzung vom 10.11., dass nichts dergleichen beabsichtigt war. Der Vertrauensausschuss, paritätisch aus Vertretern der beiden Gewerkschaftsrichtungen gebildet, sollte nur noch eng mit dem Gemeinderat zusammenarbeiten,[5] die Amtsverwaltung aber wurde gar nicht mehr berührt: Der A&S-Rat beließ alle Gemeinderessorts, wie Polizei und Lebensmittelverteilung in den Händen der Verwaltung, die den A&S-Rat vor allem in seinen Bestrebungen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Sicherheit nach Kräften zu unterstützen versprach. Kurz darauf war der neue Bürgerausschuss durch drei Vertreter im A&S-Rat beratend (18.11.18) und durch sechs im Vertrauensausschuss mit Sitz und Stimme vertreten (25.11.18). Am 30.11.vereinbarten A&S-Rat und Gemeinderat, dass sich Gemeinderat und Vertrauensausschuss in allen wichtigen Fragen vorberaten, der A&S-Rat sich mit zwei stimmlosen Vertretern an Gemeinderatssitzungen beteiligen sollte (30.11.18). Ganz unspektakulär hatte sich das Bürgertum die demokratische politische Mehrheit in Bottrops Machtstruktur zurückgeholt.[6]

Auch faktisch war der A&S-Rat kaum ein revolutionärer Machtfaktor. Mit einem neu zu bildenden Sicherheitsausschuss,[7] dem die Aufrechterhaltung der Ordnung auf den Zechen und die Unterstützung der polizeilichen Institute in den Straßen obliegt

(11.11.18), machte es sich der A&S-Rat zu einer/seiner Hauptaufgabe, Streiks von Bottrops Zechen abzuwenden.[8] Der Sicherheitsdienst/-ausschuss wurden zu einem Drittel von den Zechen bezahlt, wie auch der A&S-Rat. Kurz darauf entstanden Zechenschutzwehren, die sich aus den organisierten Arbeitern der betreffenden Schächte bildeten, von ihnen auch entlohnt aber vom A&S-Rat kontrolliert wurden (2.1.19). Kurzzeitig, während in ihre Heimat ziehende Heeresteile durch Bottrop kamen, sorgte ein militärischer Polizeidienst, der bis zu 90 entlassene Soldaten umfasste (30.11.18), auf Bottrops Straßen für Ordnung. Die Polizei unterstand nicht dem A&S-Rat, umfasste 85 Beamte und Hilfsbeamte und rechnete die Sicherheitswehr – Anfang Februar 104 Mann – selbstverständlich zu ihren Leuten.[9]

Der Erste Weltkrieg – die Übermacht der Feinde

Reichskanzler von Bethmann-Hollweg musste schon am 2.12.1914 im Reichstag überrascht zugestehen, dass sich das Deutsche Reich in dem mutwillig zugelassenen Krieg (28.11.18) von Anfang an einer ungeheuren Übermacht der Feinde gegenübersah. Diese Übermacht wurde durch die unbegreifliche Politik im Laufe des Krieges immer noch vermehrt.[10] Es war geradezu ein unbeschreiblich großes Wunder [angesichts] der ungeheuren Übermacht seiner Gegner als mächtiger Sieger dazustehen.[11]

Die deutsche öffentliche Kriegsdeutung blendete die realen Machtverhältnisse vollständig aus.[12] Nur so konnte das Friedensangebot des Vierbundes (13.12.16) an die Entente[13] von der deutschen Öffentlichkeit als großmütige Geste des Siegers auf allen Fronten gedeutet werden.[14] Die Antwort der Feinde (21.12.16/2.1.17), das „Nein“ der Verblendeten (5.1.17),[15]  bestand in der Versicherung auf ein Kriegsende, durch das die preußische Militärherrschaft … niemals wieder den Frieden in Europa würde stören können (21.12.16). Außerdem teilten die USA der kaiserlich deutschen Regierung am 21.12.1916 mit, dass sie offenkundig genötigt wären, Bestimmungen über den jetzt möglichen Schutz ihrer Interessen zu treffen, falls der Krieg fortdauern sollte (27.12.16).  Inzwischen mit dem Deutschen Reich im Kriegszustand, ließ Wilsons Note an den Papst (1.9.17) keine zwei Deutungen mehr zu: Die USA

sahen das Deutsche Reich als umfangreiche militärische Gemeinschaft, die den Krieg begonnen hatte, um die Welt ihrer Macht zu unterwerfen: Die USA würden nur den Sieg über Kaiser-Deutschland akzeptieren (1.9.17).

Die öffentliche Reaktion auf Wilson und die Entente war einhellig. Für die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands versicherte Carl Legien dem Reichskanzler, die deutsche Arbeiterschaft zum weiteren Kampf bereit (22.1.17). Kurz darauf hielt eine Reichstagsmehrheit[16] den Augenblick für gekommen, endlich zum Frieden zu mahnen, verband damit aber das heilige Gelöbnis, [dass] das ganze deutsche Volk aufflammen [werde] in gerechtem Zorne, [wenn]… die dargebotene Hand zurückgewiesen werde.[17] Die für die Bottroper Bevölkerung – zu 77% katholisch – besonders wichtigen deutschen Bischöfe standen mit unerschütterlicher Treue und opferfreudiger Hingebung … zu unseren Herrschern von Gottes Gnaden, dem Kaiser und den Landesfürsten.

Die, die Anderes wollen, ziehen sich selber die Verdammnis zu.[18]
Die gesellschaftlichen Eliten hatten sich von der Lebenswirklichkeit insbesondere der Arbeiterfamilien völlig abgeschottet. Lediglich Hugo Haase, USPD, sah voraus, dass, wenn die Kriegspolitik … fortgesetzt wird, der Zeitpunkt nicht fern sein wird, wo unser Volk verblutet ist und an Erschöpfung zugrunde geht.[19]

Reichskanzler Michaelis hörte am 19.7.1917 im Reichstag das Eíngreifen von Amerika ohne Bedenken. Kurz darauf schloss Russland mit den Mittelmächten einen Sonderfrieden.[20] Vom Zweifrontenkrieg befreit, begann die Kaiserliche Armee am 21.3.1918 die große Schlacht im Westen (26.3.18), die

aber abgeschlossen wurde durch mächtige Gegenschläge der Truppen der Entente, denen die deutschen Soldaten nichts mehr entgegenzusetzten hatten. Der deutsche Rückzug (7.8.18) und die augenfällige Sprachlosigkeit der OHL[21] am 7., 8. und 9.8.1918 führten zu einer augenblicklich gedrückten Stimmung im Volk, der die BVZ ein Haltet aus! entgegensetzte, verbunden mit der Gewissheit, dass Hindenburg und Ludendorff unser uneingeschränktes Vertrauen verdienen. Allerdings fürchtete die Zeitung, dass durch wenige Nörgler und Miesmacher die innere Front geradezu gefährdet werde (15.8.18).[22] Der schwarze Tag des deutschen Heeres, so Ludendorff später über den 8.August, veranlasste die OHL am 14.8.1918 in Spa, den Krieg für aussichtslos zu erklären.[23] Am 28./29.9. forderte sie die Reichsregierung zu sofortigen Waffenstillstandsverhandlungen auf,[24] ultimativ am 1./3.10, verbunden mit der Forderung einer Aufnahme der Mehrheitsparteien in die Regierung. Daraufhin ernannte der Kaiser am 3.10. Max von Baden zum Reichskanzler. Der bildet am gleichen Tag eine neue Regierung, berief … die Führer der Mehrheitsparteien zu seinen unmittelbaren Ratgebern (7.10.18) und bat am 4./5.10. Wilson um einen Waffenstillstand zur Herstellung des Friedens. Formal erfolgte die Bitte um Waffenstillstandsverhandlungen am 21.10.1918. Am 11.11.1918 schwiegen die Waffen: Die deutsche Regierung hatte die Waffenstillstandsbedingungen bedingungslos angenommen (12.11.18).[25] Reichskanzler war inzwischen Friedrich Ebert, dem Max von Baden am 9.11. die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers übertragen hatte (11.11.18): Die Sozialdemokraten hatten ihren Verbleib in der Regierung an die Abdankung des Kaisers geknüpft (9.11.18).[26]  Die Regierung Ebert nahm die Waffenstillstandsbedingungen an. Fehrenbach, späterer Reichskanzler, über die entscheidenden Minuten im Kanzlerhause: Am 10 November war der berühmte Sonntag zur Entgegennahme der Waffenstillstandsbedingungen. Im Raume waren Ebert, seine Staatssekretäre Scheidemann und Landsberg, die Männer der alten Regierung und ich. Solf[27] verlas die

Waffenstillstandsbedingungen. Dann das Telegramm der deutschen Waffenstillstandskommission – keine Verhandlungen: annehmen oder ablehnen.[28] Dann Hindenburgs Telegramm: Sofort annehmen; er könne die Armee nicht mehr beieinander halten, sie laufe ihm schon jetzt davon. Sonst sei er genötigt, mit der ganzen Armeee zu kapitulieren.
Ebert: Wer ist dagegen?
Es folgte ein furchtbares Schweigen.

Die Ursachen des militärischen Zusammenbruchs

Der Schock war ungeheuer,[29] als am 1./3.10.1918 die OHL den Reichstagsfraktionen mitteilte, der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen, ein Waffenstillstand unverzüglich einzuleiten – und schon bald wurde nach den Ursachen des militärischen Zusammenbruchs gefragt (22.11.18). Für die Alldeutschen[30] war klar, die von den Parteien genährte Illusion eines Verständigungsfriedens hatte in jahrelanger Arbeit den Siegeswillen getötet, so dass die Heimatfront nicht mehr geschlossen hinter der Front gestanden habe – darum der Zusammenbruch.


Die Analyse der BVZ vom 22.11.1918 kam zu einem ganz anderen Ergebnis. Sie verwies auf Eingeweihte, die mit großer Sorge die Entwicklung an der Front verfolgt und erkannt hätten, dass sich unsere militärischen Führer Ziele[31] gesetzt hatten, die bei den vorhandenen Mitteln unerreichbar bleiben mussten. Auch in der Truppe waren sich die Führer in vorderster Linie und die Mannschaften … längst darüber klar, dass der militärische Sieg nicht mehr gewonnen werden könne. Ludendorff aber trieb die Truppen zu neuen Schlachten vor, verbrauchte die Reserven an Menschen und Material und damit die Moral der Truppe.  Unter diesem Eindruck plötzlicher Ernüchterung kam Ludendorff nach Berlin, um das in seinen Folgen so verheerend wirkende Waffenstillstandsangebot durchzudrücken (22.11.18). Eine Woche nach diesem Verzweiflungsschritt musste Max von Baden dann von den militärischen Autoritäten hören, dass sie sich am 1. Oktober über die Lage an der Front getäuscht hätten. Darum muss heute rundheraus erklärt werden, dass dieses Waffenstillstandsangebot der Beginn des inneren Zusammenbruchs gewesen ist, und dass diejenigen, welche ohne zwingenden Grund diesen Waffenstillstand befürworteten, die eigentlich Schuldigen an den Dingen sind, die sich jetzt in Deutschland entwickelt haben.[32]


Über die Heimatfront resümierte die Zeitung, wobei sie auch hier mehr ver- als aufdeckte: Die Moral des Volkes, das Vertrauen zum Staate, die Geschlossenheit im Innern … hat durch die schrankenlose Gewinnsucht und den himmelschreienden Wucher im Geschäftsleben aufs schwerste gelitten, … wie auch die Kampffreudigkeit und das Vertrauen unserer wackeren Kämpfer (21.10.18).


Die Dolchstoßlüge im Bottroper Wahlkampf

Die BVZ-/Zentrums-Analyse konnte den Waffenstillstandsbedingungen nicht standhalten, die USA-Präsident Wilson am 23.10. über die Schweizer Botschaft der deutschen Regierung zugehen ließ,

und in denen die USA und ihre Verbündeten einen Waffenstillstand verlangten, der die Wiederaufnahme der Feindlichkeiten von Seiten Deutschlands unmöglich machen würde; außerdem könnten die Völker der Welt denjenigen nicht trauen, welche bisher die deutsche Politik beherrschten (25.10.18). Am 5.11. präzisierte Wilson die Bedingungen der Entente und bestimmte, Marschall Foch wird die deutsche Regierung von den Waffenstillstandsbedingungen in Kenntnis setzen – also keine Verhandlungen (7.11.18). Damit war der Fall eingetreten, der, so Reichskanzler Max von Baden am 5.10. im Reichstag, unsere Kräfte verdoppeln und einen Endkampf auf Leben und Tod notwendig machen würde (7.10.18). Passend, behaupteten die Heeresberichte, an der Westfront werde das Gleichgewicht allmählich wieder hergestellt (30.10.18). Ludendorff wollte plötzlich weiterkämpfen (29.10.18).[33] Am 24.10. bekam die Hochseeflotte den Befehl für die Entscheidungsschlacht gegen Großbritannien,[34] aber die Matrosen einiger Schiffe weigerten sich am 29.10. auszulaufen – die Revolution begann.
Der militärische Zusammenbruch ohne finale Schlacht musste also anders erzählt werden, zumal die Feststellung, er sei durch den Verzweiflungsschritt Waffenstillstandsangebot eingeleitet worden und habe zu den Dingen geführt, die sich jetzt in Deutschland abspielen, den Schönheitsfehler aufwies, dass, wenn die Verantwortlichen nicht nur Ludendorff/Hindenburg, sondern auch die Regierung Max von Baden wären, das Zentrum ebenfalls belastet würde. Darum reichte es nicht, die Zentrumsführer durch Hinweise auf ihre militärische Geheimhaltungspflicht und die rücksichtslos ausgeübte Zensur, aus jedweder Verantwortung zu entlassen, es mussten andere Gründe und Schuldige gefunden werden. Eigentlich war es ganz einfach, wie der für Bottrop zuständige Zentrums-Partei-Sekretär erkannt hatte: Nicht durch einen Weltirrtum und verrannten Machtstandpunkt wurde unser Volk in den Abgrund gezogen, sondern die Unabhängigen (USPD) haben Deutschland im entscheidenden Augenblick wehrlos

gemacht. Sie hatten für den Umsturz … die Fäden längst gesponnen – in Kiel und Köln schlugen sie dann zu.[35] Der Landtagsabgeordnete Prof. Wildemann konkretisierte: Schon vom 25. Januar ab wurde von sozialistischer Seite planmäßig der Umsturz im Heer betrieben. Auch durch die dreitägige Störung des Eisenbahnverkehrs habe die Revolution Deutschland schwer geschadet (2.1.19). Beide Wahlredner konnten sich auf Hindenburg berufen, der am 21.11.1918 aus dem Großen Hauptquartier, inzwischen in Kassel, der Regierung Ebert telegraphiert hatte, das deutsche Heer ist infolge der Härte der Waffenstillstandsbedingungen und … der Ereignisse in der Heimat nicht in der Lage, den Kampf wiederaufzunehmen.
Auf der Boyer Versammlung katholischer Frauen wollte Prof. Weskamp, Dorsten, die Sozialdemokratie noch als Opfer der Revolution ansehen, als er rhetorisch fragte, hätte Deutschland nicht bessere Waffenstillstandsbedingungen aushandeln können ohne den Umsturz (3.12.18)? Solche Skrupel hatte der Reichstagsabgeordnete Schiffer[36] nicht; er übertrug die Schuld am Zusammenbruch bedenkenlos der Sozialdemokratie. Die hatte nämlich am 7.11. den Rücktritt des Kaisers in einem Augenblick gefordert, wo dieser Rücktritt den Zerfall der äußeren und inneren Front zur Folge haben musste (7.1.19).

Die Aufdeckung der Gründe unseres Zusammenbruchs[37] fehlte in keiner der zahlreichen Veranstaltungen vor den Wahlen 1919 (Nationalversammlung: 19.1.19, Gemeinderat: 19.3.19). Allerdings musste dabei immer bedacht werden, dass unsere Helden … unbesiegt den Kampf aufgegeben hatten (30.11.18). Die deutschen Bischöfe[38] begrüßten die heimkehrenden katholischen Krieger empathisch mit Ihr kehrt heim! Nicht als Besiegte!,[39] und verknüpften die schweren Zeiten, die die Übermacht des Feindes uns gebracht hatten, mit denen, die schwerer noch geworden sind, durch das, was ihr bei eurer Ankunft in der Heimat findet. (9.12.18). Was bei den Bischöfen nur zwischen den Zeilen, für die katholischen Zeitgenossen aber unüberhörbar, mitschwang, verband der Generalsekretär der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands, Adam Stegerwald, zu einem Gesamtbild, das sich nur noch vage an die historischen Fakten hielt: Die Sozialdemokratie hatte stets in grundsätzlicher Opposition zum Staat gestanden, darum auch die Abdankung des Kaisers gefordert, … damit die Zersetzung und Zuchtlosigkeit in das Heer getragen und trotzdem die Revolution nicht verhindern können. Sie hat also den Kriegsausgang und in dessen Folge die Revolution und damit unsere gegenwärtige innenpolitische und zum Teil auch außenpolitische Ohnmacht zu verantworten (25.1.19).

SPD, USPD und Spartakus/KPD versuchten, dem bürgerlichen Topos, den militärischen Zusammenbruch verschuldet zu haben, entgegenzutreten, hatten aber in Bottrop einen schweren Stand,[40] obwohl die SPD sich von Anfang an von (Teilen) der Revolution distanzierte, sie mit militärischen Mitteln wie mit politischen Schlagworten bekämpfte.

Durch die Verunglimpfung der Revolution als Bolschewismus lieferte die MSPD sie den bürgerlichen Parteien als Unberührbare aus. Es half der MSPD – von der sich große Teile der Arbeiterschaft daraufhin abwendeten – im bürgerlichen Lager aber gar nicht: Der Geist des Bolschewismus ist Geist von der Sozialdemokratie (25.1.19). Es half aber auch dem Zentrum einige Jahre später nicht: Die Sozialdemokratie hatte Deutschland verraten und der Schwarze dabei Schmiere gestanden. Diesen beiden, der roten und der schwarzen[41] Internationale, sagte Göring den unversöhnlichen Kampf an;[42] sie waren die Novemberverbrecher.


[1] Bottroper Volkszeitung vom 9.12.1918: Der Aufmarsch der Parteien läutete den Wahlkampf ein. Für die BVZ standen sich 1919 bei der Wahl zur Nationalversammlung (19.1.) und der Kommunalwahl (9.3.) zwei Blöcke gegenüber, die sozialistischen Parteien (die Spartakusleute, die Unabhängigen und die Mehrheitssozialisten) und die bürgerlichen (die demokratische Volkspartei, das Zentrum und die Deutschnationale Volkspartei).
Zitate aus der Bottroper Volkszeitung werden es ab jetzt in der Kurzform (9.12.18) angegeben.

[2] Als Michael Haugg 1916 Schriftleiter der Bottroper Volkszeitung wurde, hatte er schon reiche Erfahrung als praktischer Lokalpolitiker gesammelt (2.5.16). Er war gleichzeitig Parteivorsitzender des Bottroper Zentrums, verhandelte als Leiter des Bürgerausschusses mit dem Arbeiter- und Soldatenrat (A&S-Rat), stand dem Bottroper Zentrumsverein vor, in dem alle Bottroper Geistlichen Beisitzer waren, und wurde Abgeordneter des Zentrums im ersten Gemeinderat nach der Revolution.

[3] So unspektakulär beschreiben die Sitzungsberichte des Arbeiter- und Soldatenrates in Bottrop (Stadtarchiv) den Ausbruch der Revolution in Bottrop am 9.11.1918.

[4] Georg Wingold, Vorsitzender des Bottroper Arbeiter- und Soldatenrates, wollte verhindern, dass Essener Soldaten sich auf dem Rathaus einschleichen würden; meinte, dass der Revolutionsstrom … nicht anders zu kanalisieren wäre als mit denen einen A&S-Rat zu bilden: Wir mussten Ruhe schaffen. Wingold hatte auch aus den Bürgerlichen welche für den A&S-Rat vorgemerkt, musste davon aber noch absehen, weil zu befürchten war, dass das Bild dadurch ein anderes Firmenschild bekommen würde.

[5] Der Vertrauensausschuss bestand aus Gewerkschaftern (10 Alter Verband/SPD-Gewerkschaften, 5 christliche, 5 polnische); der Gemeinderat aus 18 Bottroper Bürgern.

[6] Das hatten schon am 11.11.1918 der A&S-Rat und der Magistrat Recklinghausens – Bottrop gehörte damals zum Kreis Recklinghausen – vereinbart, als sie sich darauf verständigten, dass alle Behörden und alle Gesetze und Verordnungen beibehalten würden, der A&S-Rat es aber als seine Aufgabe betrachtet, die Durchführung dieser Bestimmungen im demokratischen Sinne zu überwachen (13.11.18).

[7] Der Sicherheitsausschuss bestand aus 50 sozialdemokratischen, 25 christlichen und 25 polnischen Gewerkschaftsvertretern, wurde aber Anfang Dezember auf 24 Mann (12, 6, 6) reduziert.

[8] Am 11./12.11. gelang das noch – aber seit Freitag [13.12.] stehen die Belegschaften sämtlicher Prosperschächte im Ausstand (16.12.18); Rheinbaben schloss sich an.

[9] 1. Jahrbuch der Stadt Bottrop; S. 101/2. Das hinderte den Beigeordneten Dr. Brinkmann aber nicht daran, dem A&S-Rat die Verantwortung für die Verteidigung des Rathauses am 19.2.1919 (Rathaussturm) zu überlassen.

[10] Philipp Scheidemann am 19.7.1917 im Reichstag, auf den Kriegseintritt (Februar/April 1917) der USA anspielend.

[11] BVZ vom 20.9.1917: Erzberger, Zentrum, auf einer Wahlveranstaltung in Biberach.

[12] Die kleine, an den asiatischen Kontinent angelehnte Halbinsel, auf der das Deutsche Reich nur ein Staat unter mehreren war ((Michaelis im Reichstag:) 29.9.17), ließ die realen geopolitischen Verhältnisse für einen Moment aufblitzen, hatte aber keinen Einfluss auf die deutsche Politik, die, wie Mommsen, Wolfgang J.: Der Erste Weltkrieg, Fischer 2004; S. 79 – 93 schreibt, an der Kontinuität des Irrtums festhielt.

[13] Den Vierbund bildeten das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei – auch Mittelmächte genannt. Sie kämpften gegen die Entente (England, Frankreich, Russland), die von Anfang an von den USA mit Waffen und Lebensmitteln unterstützt wurde, und der sich im Kriegsverlauf viele andere Staaten anschlossen, z. B. Italien. Reichskanzler von Bethmann-Hollweg stellte das Friedensangebot am 12.12.1916 dem Reichstag vor.

[14] Die BVZ am 29.12.1915 in einer Rundschau über das Kriegsjahr 1915.

[15] Die Entente verwahrte sich auch ausdrücklich gegen die doppelt unrichtige Behauptung des Friedensangebots des Vierbundes, die Alliierten hätten die Verantwortung für den Krieg(sausbruch) und die Zentralmächte seien die Sieger.

[16] MSPD, Zentrum und FVP (Fortschrittliche Volkspartei).

[17] Constantin Fehrenbach, Zentrum, Reichstagspräsident ab 1918, späterer Reichskanzler, in der Reichstagsaussprache über die Friedens-Resolution vom 19.7.1917 (Reichstags-Protokolle S. 3574)

[18] BVZ vom 26.11.1917 – Allerheiligen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe

[19] Hugo Haase in der Reichstagsdebatte zur Friedensresolution am 19.7.1917.

[20] Seit Dezember 1917 gab es einen Waffenstillstand; der Friede von Brest-Litowsk wurde am 3.3.1918 geschlossen.

[21] Die BVZ gab den (fast) täglichen OHL-Tagesberichten auf der ersten Seite immer den besten Platz.

[22] Angeblich sollen Truppenmassen zum Feind überlaufen oder halbe Kompanien sich bereitwillig gefangen geben (5.10.18).

[23] Die OHL erklärte dem Großen Hauptquartier, zu dem der deutsche und der österreichische Kaiser, hochrangige Vertreter der anderen Verbündeten, der deutsche Reichskanzler, der Kriegsminister und viele ranghohe Militärs gehörten, dass sie die Zuversicht auf einen Endsieg nicht mehr bieten könne (15.10.18).

[24] Reichstagspräsident Fehrenbach erinnerte sich daran: Am 26. September wurde uns auch im Hauptausschuss vertraulich das Waffenstillstandsangebot Bulgariens mitgeteil. Ludendorf erklärte, dass man im Verlaufe von 48 Stunden ein Waffenstillstandsangebot abgeben müsse. Damit war der Krieg verloren (5.2.19).

[25] Bereits am 14.9. bat Österreich-Ungarn um Frieden; Bulgarien kapitulierte am 29.9., das Osmanische Reich am 30.10. – das Deutsche Reich hatte keine Verbündete mehr.

[26] Fehrenbach zur Vorgeschichte der Revolution (5.2.19): Vom 4.11. ab habe die MSPD täglich im interfraktionellen Ausschuss über die Abdankung des Kaisers gesprochen. Die Sozialdemokraten fänden sich mit der Monarchie ab, nicht aber mit dem Kaiser und seinem Nachfolger.

[27] Wilhelm Solf war in den Regierungen Max von Baden und Ebert Staatssekretär für Auswärtiges, also Außenminister.

[28] Prof. Wildemann, Landtagsabgeordneter des Zentrums, wird in seinen Wahlreden sagen, dass er von Erzbergerselbst wisse, dass Foch die Verhandlungen mit Erzbergers Delegation abgebrochen habe, weil  Ebert ein Telegramm geschickt habe mit der Anweisung: Annahme der Waffenstillstandsbedingungen (2.1.19).

[29] Kaum zu glauben – aber auch unsere großen Historiker behaupten das, z. B.  Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora, Beck 2014; S. 879.

[30] Der Alldeutsche Verband war seit 1891 das Sammelbecken für Rechtskonservative, der seine Bedeutung durch personelle Vernetzung mit anderen Vereinen/Verbänden noch steigerte. Er stand der 1917 gegründeten Deutschnationalen Volkspartei nahe. Sein Programm war, in der Kurzfassung von Wikipedia, expansionistisch, pangermanisch, militaristisch, nationalistisch sowie von rassistischen und antisemitischen Denkweisen bestimmt.

[31] Die Eingeweihten meinten hier konkret die Lage vor der großen Schlacht im Westen im März 1918.

[32] Die Erklärungen Max von Badens vor der Zentrums-Reichstagsfraktion fasste ein Mitglied als Vorgeschichte des Waffenstillstandsangebots für die BVZ zusammen (22.11.18).

[33] Ludendorff hatte, abgestimmt mit Hindenburg, am 24.10. den Armeebefehl herausgegeben, Wilsons Waffenstillstandsbedingungen seinen für Soldaten unannehmbar. Seine Entlassung am 26.10. feierte der Vorwärts als Entpolitisierung des Militärs. (29.10.18).

[34] Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19, 2017; S. 107.

[35] Es ist heute nicht mehr vorstellbar, wie damals Zentrums-Wahlveranstaltungen abgelaufen sind: Bevor Parteisekretär Bitter, Bezirk Recklinghausen, zu dem Bottrop gehörte, reden durfte, eröffnete Pfarrer Neuhaus die Versammlung in Boy, dann hielt der hochwürdige Rektor Hugenroth der St. Michael-Pfarre einen Vortrag über die Bedeutung der Revolution für Kirche und Staat. Nach Bitter sprach dann noch Kaplan Tentrop über den Zentrumsverein, in dessen erweitertem Vorstand alle Priester Bottrops vertreten waren.

[36] Karl Matthias Schiffer war führender Funktionär der christlichen Gewerkschaften und Reichstagsabgeordneter des Zentrums im Wahlkreis Borken-Recklinghausen, zu dem auch Bottrop gehörte.

[37] Z. B. der Abgeordnete August Brust, Buer, der Bottrop für das Zentrum im Preußischen Abgeordnetenhaus/ Preußischen Landtag vertrat.

[38] Die unterzeichneten Erzbischöfe und Bischöfe entbieten den heimkehrenden katholischen Kriegern herzlichen Willkommensgruß am 1. Adventssonntag – ohne die Bayern.

 [39] Friedrich Ebert sah das ähnlich. Er aber wusste, dass die Soldaten, zu denen er am 10.12. sprach, von der OHL nach Berlin verlegt worden waren, um mit Spartakus dem ganzen bolschewistischen Spuk ein Ende zu machen (Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19, 2017; S. 214-229.).

[40] Die Revolution hatte erstmals die Möglichkeit geschaffen, für sozialistische Veranstaltungen in Bottrop einen geeigneten Versammlungsort mieten zu können (17.12.18).

[41] Die schwarze Internationale war im Nazi-Jargon die katholische Kirche und ihr politischer Arm, das Zentrum.

[42] BA vom 11.3.1933: Goering in Essen.

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